Natürlich kommt das fehlende Verständnis für eine andere Kultur von einem Mangel an Wissen, doch der Grund für dieses beschränkte Wissen ist möglicherweise, dass man sein Denken einfach zu sehr abschottet. Man verspürt gar nicht den Drang, sich zu öffnen und „das Andere“ verstehen zu müssen. Letztendlich kommt ja der ganze Ärger von außen, ob nun von China, dem Iran, aus Afghanistan oder dem Irak. Im Vergleich zu diesen Krisenherden erscheint die europäische Welt so wohlhabend wie zuvor, zumindest erscheint sie friedlich und intakt und genügt dem vorherrschenden kulturellen Überlegenheitsgefühl. Und die Geschichte scheint diesem Gefühl Recht zu geben, es beherrscht Europa seit der Renaissance.
Die Vorstellung von der Allgemeingültigkeit europäischen Denkens nahm seinen Anfang mit der Aufklärung, und sie gilt auch für das politische System der Demokratie und seine Auswirkung auf die Gesetzgebung oder für die Freiheit der Rede. Die Armut der sozialistischen Staaten während des Ost-West-Konflikts stützte das westliche Überlegenheitsgefühl genauso selbstverständlich wie das Ende des Kalten Kriegs als Sieg der westlichen Zivilisation gefeiert wurde. Die Tragik des Anschlags vom 11. September bleibt auch nach der Auslöschung von Saddam Hussein und Osama Bin Laden vollends bestehen.
Und auch die neuesten Veränderungen im Mittleren Osten scheinen nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Welt sich nach dem Vorbild Europa richtet. Europa bleibt das Zentrum des Universums, sein Wertesystem ist die Achse, an der sich der Fortgang der Geschichte orientiert, und demnach wird die Zukunft immer in den Händen des alten Kontinents liegen. Dieses Bild ist tröstlich, doch ich möchte daran erinnern, dass die Chinesen seit zweitausend Jahren genau dasselbe Geschichtsbild haben.
Sie ließen sich von ihren Emotionen leiten, riefen nihilistische Parolen mit der Forderung nach vollkommener Verwestlichung aus.
Der größte Unterschied im Vergleich der chinesischen Geschichte mit der des Mittelmeerraumes ist der, dass die chinesische Kultur im Lauf ihrer Historie weit weniger herausgefordert wurde. Im Verhältnis zur so genannten Ersten Welt entwickelte sich die chinesische Kultur vor den Opiumkriegen praktisch ungestört und unbeeinflusst (abgesehen von den Eroberungsfeldzügen einiger Nomadenvölker, die aber letztendlich immer von der chinesischen Kultur assimiliert wurden). Daraus resultierte ein „Reich der Mitte“, das immer selbstgefälliger und konservativer wurde.
Das chinesische Kultursystem war wie eine rostige Feder, die jede Elastizität verloren hat, um auf Herausforderungen von außen zu reagieren. Bis dann die Europäer mit ihrer eigenen Kultur (und militärischen Stärke) kamen und solange auf die Feder Druck ausübten, bis die Chinesen sich mit einem Mal aus ihrem Selbstbewusstsein heraus in einen Zustand extremer Selbstzweifel katapultiert sahen. Sie ließen sich von ihren Emotionen leiten, riefen nihilistische Parolen mit der Forderung nach vollkommener Verwestlichung aus, schufen ihr eigenes Modell von Revolution und stürzten sich kopfüber in die dunkelste Diktatur ihrer Geschichte.
In der Geschichte Europas, oder besser des Mittelmeerraums, trafen unterdessen permanent Kulturen aufeinander und lösten einander ab, vom alten Ägypten über das griechische, römische, byzantinische oder osmanische Reich bis zu Napoleon, den russischen Zaren und den fremden Eroberern Attila oder Dschinghis Khan. Jedes Aufeinanderprallen zwang Europa, seinen eigenen Standpunkt neu zu bestimmen und zu festigen. Das Beständige an europäischer „Tradition“ waren die ständigen Impulse von außen und immer neue Herausforderungen. Doch dann kam die Renaissance und mit ihr das denkende Individuum und fragte: „Was ist Europa?“ Die divergierenden Kulturen Europas suchten und fanden mit der EU einen gemeinsamen Nenner. Europa war ein Erfolg. Aber ich frage mich: Setzt sich diese Erfolgsgeschichte fort?