Neue Welt – Die Globalisie­rung als Prüfstein Europas

Während die Welt sich nach dem Vorbild Europas richtet, erinnert der Schriftsteller Yang Lian daran, dass die Chinesen seit zweitausend Jahren genau dasselbe Geschichtsbild haben.

Die Erde rotiert wie verrückt. Manchmal dreht sie sich sogar in völlig unerwartete Richtungen: Wer hätte einmal gedacht, dass das kommunistische China, in dem zu Zeiten Maos Millionen von Menschen verhungerten, heute als Kreditgeber und „großer Bruder“ der kapitalistischen Welt enden und die im Strudel der Finanzkrise zappelnde westliche Welt gierig darauf warten würde, dass China zur Rettung ihrer Staatsschulden einspringt?

Ähnliches gilt für die arabischen Staaten: Vor nicht allzu langer Zeit noch betrachtete Europa sie mehr oder weniger offen als feindliche Welt, der man sich im Kampf der Kulturen gegenübersah. Tunesien, Ägypten und Libyen wechselten quasi über Nacht ihre Farben. Mit einem Mal ist manch antiquierter Despot auf der anderen Seite des Mittelmeers spurlos verschwunden. Die globale Politik und die wirtschaftliche Landkarte wechseln so schnell wie ein Theatervorhang. Ob die Chinesen oder die Araber, die diese Veränderungen am eigenen Leib zu spüren bekommen, wohl nachts aus dem Schlaf aufschrecken und sich fragen: Wo bin ich hier überhaupt?

Inmitten dieser Turbulenzen

Auf der anderen Seite können sich die Europäer inmitten dieser Turbulenzen der Geschichte vermutlich nur fragen: Was ist los mit der Welt? Wohin führt das alles, was hier vor unseren Augen mit rasender Geschwindigkeit abläuft? Oder, anders gefragt: Wie reagiert Europa, wenn die Welt ihr ein neues Gesicht entgegenhält? Brauchen wir eine Neuverortung der europäischen Kultur? Was macht unsere Kultur heute aus und was sind unsere Werte?

Mir erscheinen diese Fragen dringlich, und zwar aufgrund von zwei auf den ersten Blick sehr gegensätzlichen Erfahrungen. Eine davon war die Frankfurter Buchmesse 2009. China war damals als Ehrengast eingeladen. Das schien zunächst eine gute Gelegenheit, mittels der vielfältigen Perspektiven und Foren, die die Buchmesse bietet, der Welt einen umfassenden Einblick in dieses traditionsreiche Land zu geben, einen Blick unter die rote Mütze der Kommunistischen Partei zu werfen und herauszufinden, was sich in China in den letzten Jahren abgespielt hat.

Wie reagiert Europa, wenn die Welt ihr ein neues Gesicht entgegenhält? Brauchen wir eine Neuverortung der europäischen Kultur? Was macht unsere Kultur heute aus und was sind unsere Werte?

Es wäre spannend gewesen zu sehen, wie China die Denkmuster der kommunistischen Staaten zur Zeit des Kalten Kriegs durchbrochen und eine Diktatur zu wirtschaftlichem Erfolg gebracht hat. Welche Macht wäre nicht gierig und korrupt, aber warum geschehen dennoch nicht allerorten ähnliche „Wunder“ wie in China?

Was aussieht wie ein Widerspruch in sich, ist tatsächlich das Resultat komplexer kultureller Hintergründe, die sich zu untersuchen gelohnt hätte. Das hätten die Planer der Buchmesse von vornherein bedenken müssen, um dann ein entsprechendes Programm festzulegen. Aber leider wollte die Messeleitung zuerst „den Tiger um sein Fell bitten“, wie man in China sagt (und meinte damit, sie könnte Parteibürokraten und Dissidenten zur Diskussion an einen Tisch bringen), nur um hernach „mit dem Wolf zu tanzen“ (und die Einladung an die Dissidenten wieder abzusagen, als die Partei ihre Meinung änderte). Das Ergebnis war unschwer absehbar: Die ganze Messe wurde zu einem Schlachtfeld, auf dem nicht mehr als ideologische Parolen hin- und her flogen. „China“ gab sich wie ein Second-Hand-Laden, in dem die recycelten Worthülsen aus dem Ost-West-Konflikt nie aus der Mode kommen.

Harmlos krachendes Feuerwerk

Doch wie sieht die chinesische Wirklichkeit heute tatsächlich aus? Welche Denkanstöße hat das Land der Welt zu bieten? Diese Fragen gingen leider unter. Wir wollten Geschütze abfeuern und zündeten doch nur ein Feuerwerk, laut krachend, aber harmlos. Denn das echte, lebendige China wurde bei dem ganzen Lärm um die Schablone „China“ völlig vernachlässigt.

Das zweite Erlebnis stammt vom Internationalen Literaturfestival in München 2010. Die Diskussion, an der ich teilnahm, hatte ein so markantes wie irreführendes Thema: Meisterwerke der Gegenwart. In diesem Titel selbst steckte bereits ein wesentliches Dilemma der modernen Welt: Wer bestimmt in einer Welt mit mannigfachen kulturellen Traditionen die Kriterien für das, was als zeitgenössisches Meisterwerk gelten kann?

Die Debatte hielt sich an die Struktur von Exzellenz-Rankings. Es wurde ein deutsches, ein europäisches und ein internationales Ranking aufgestellt. Ich hatte gehofft, dass die Elite europäischer Denker ihre Auffassung zu der Frage abgeben würde, die meiner Meinung nach die eigentliche Herausforderung des Themas darstellte, aber ich wurde abermals enttäuscht. Nicht einmal so kenntnisreiche Redner wie Umberto Eco hatten sich wirklich über die Fragwürdigkeit der Beurteilungskriterien Gedanken gemacht. Die Tendenz europäischer Intellektueller, in Bezug auf fremde Kulturen stets stark zu schematisieren, war in unserer Diskussionsrunde allgegenwärtig.

China wurde mit kommunistischer Ideologie gleichgesetzt, die arabische Welt mit ethnischen und religiösen Konflikten (damals konnte niemand die jetzigen drastischen Veränderungen vorausahnen). Noch dazu setzte sich diese Tendenz zur Vergröberung selbst im Nachdenken über Europa fort. Als man über europäische Meisterwerke sprach, spielte erstaunlicherweise ständig deren wirtschaftlicher Erfolg eine Rolle.

Das ist in der Tat fragwürdig. Wie viele Meisterwerke der Literatur, Kunst oder der Philosophie haben in der Geschichte jemals sofortigen Bestsellerstatus erlangt? Wenn ein „Meisterwerk“ an seinem marktwirtschaftlichen Erfolg gemessen wird, sollen wir dann also die Werke von Kafka und Joyce als minderwertige Werke einstufen?

Wie sieht die chinesische Wirklichkeit heute tatsächlich aus? Das echte, lebendige China wurde bei dem ganzen Lärm um die Schablone „China“ völlig vernachlässigt.

Ich plädierte stattdessen dafür, allein die künstlerische und gedankliche Reife eines Werks als Kriterium für ein Meisterwerk heranzuziehen. Ganz gleich, wie viele unterschiedliche kulturelle Systeme zu seiner Beurteilung antreten, ein Meisterwerk muss sich als etwas in jeder Hinsicht Einzigartiges erweisen. Ich argumentierte auf Basis der klassischen chinesischen Dichtung. Es wird gerne so dargestellt, als basiere ihre glanzvolle Tradition allein darauf, dass es sich eben um „Klassiker“ der chinesischen Kultur handele. Unfug. Ihre Schönheit kommt von der Tiefe ihrer Kunst und ihres Denkens.

Quelle der Inspiration

Als Beispiel führte ich den Dichter Qu Yuan an, der vor 2300 Jahren im Staat Chu wirkte, sowie den großen Dichter Du Fu, der vor 1200 Jahren in der Tang-Zeit lebte. Ich erläuterte, auf welche Weise die Erfahrung des Exils, die ich mit den beiden Dichtern teile, über die Zeiten hinweg bis hin zu mir eine Quelle der Inspiration für Inhalt und Form eines künstlerischen Werks ist. Und wie daraus im ästhetischen Raum der Dichtung eine große gedankliche Tiefe entstehen kann. Dieser Grad der Reflexion erlaubt uns, in einer Welt, in der wir überall Fremde sind, bewusst ein „aktiver anderer“ zu werden und die Distanz nicht nur zu anderen Kulturen, sondern insbesondere auch zu unserer nur dem Wort nach „eigenen“ Kultur zu verdeutlichen. Unter Einbeziehung sämtlicher kultureller Ressourcen finden wir schließlich eine Antwort auf die drängenden Nöte der Menschen der Gegenwart.

Für mich als einen in Europa lebenden Dichter, der sich dennoch der chinesischen Sprache bedient, liegt jeder meiner Atemzüge zwischen diesen beiden unterschiedlichen Kulturen. Meine Reflexionen über das Chinesische als literarische Sprache, meine Erkundungen auf dem Gebiet der chinesischen Dichtung von der Ideengeschichte bis zur technischen Form über den einer „Inspiration durch den Albtraum“ gleichenden Zusammenhang zwischen meiner Dichtung und Chinas Realität bis hin zu ihrer Bedeutung für die moderne Transformation der chinesischen Tradition führen zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit Europa. Damit möchte ich sagen, dass es für mich keinen Zugang zu einer Kultur geben kann, der nicht den Weg von innen her sucht. Wir müssen erst unser eigenes Selbst durchwandern, um in unseren Tiefen den Tiefen eines anderen nachspüren zu können. Das sollte natürlich gleichfalls für die Art und Weise gelten, auf die die Europäer eine andere Kultur verstehen lernen.

Europäische Intellektuelle haben in Bezug auf fremde Kulturen die Tendenz, stets stark zu schematisieren.

Die beiden erwähnten negativen Erfahrungen haben bei mir den Eindruck hinterlassen, dass die europäische Kultur in dieser Hinsicht noch einiges nachzuholen hat, bevor sie darangeht, mit der größten Umsicht, die ihre Denktradition erlaubt, auf eine globalisierte Welt zu reagieren. Europa hat noch nicht ernsthaft versucht, die eigenen Denkmuster umzustoßen, um neue Perspektiven zu gewinnen und seinen Horizont zu erweitern. Die Realitäten und Kulturen von „anderswo“ müssen erst noch in das eigene Denken übertragen werden.

Damit ließe sich das Wissen um die eigenen Schwierigkeiten wesentlich vertiefen. Ich habe „anderswo“ hier absichtlich in Anführungszeichen gesetzt, denn de facto kennt die moderne Welt kein „anderswo“. Alle scheinbar „fernen Orte“ liegen in Wahrheit in uns selbst. Jeder Mensch ist vom Geist bis zur Materie ein hybrides Gebilde.

„China“ ist uns sehr nah. So nah wie das Paar Markenschuhe an deinen Füßen, das vermutlich mit den Händen der modernen Sklaven des 21. Jahrhunderts gefertigt wurde; und durch die wundersame Transformation eines internationalen Großkonzerns hat dieser damit, dank der Differenz zwischen den Kosten der Arbeit chinesischer Bauern und europäischer Preise, einen Profit gemacht, von dem man nur träumen kann. Der Weltkapitalismus schweißt uns zusammen wie künstliche siamesische Zwillinge.

Bizarrer Spiegel

Er ist der Spiegel einer bizarren Welt: Westliche Politiker, die China besuchen und sich dabei bemüßigt fühlen, ein paar Worte über Menschenrechte und Demokratie fallen zu lassen, die weniger dafür gedacht sind, wirklich etwas an den Verhältnissen in China zu ändern, als der Besänftigung der heimischen Medien und Wahlurnen zu dienen. Ist man das hohle Geschwätz erst einmal losgeworden, geht man schnell zur Tagesordnung über. Die chinesische Regierung kann diese peinlichen Verrenkungen nur mit einem spöttischen Lächeln bewundern. Solange die Bestelllisten stimmen, schluckt jedes europäische Land gerne becherweise den bitteren Schnaps, den ihm der chinesische Staat mit seiner Unterdrückung Andersdenkender serviert. Sogar im Vergleich mit der Prinzipientreue der Partei schneidet das inkonsequente Verhalten der Europäer schlecht ab.

Wie man es auch dreht und wendet: Die Fähigkeit zum Verständnis und zur angemessenen Reaktion auf das Ausland hängt von der Fähigkeit zur Selbstanalyse ab. Und das bedeutet zuerst, sich selbst infrage zu stellen. Begreift Europa überhaupt seine eigene missliche Lage?

Tut mir leid, aber wenn es an Bewusstsein mangelt, riskiert man, vom Unbewussten geleitet zu werden. Die „Neue Welt“ ist vielleicht gerade so altmodisch wie die, die schon Aldous Huxley beschrieb. Man verfällt in mechanisierte Handlungsabläufe und lebt apathisch sein von Inhumanität bestimmtes Leben.

Abgeschottetes Denken

Natürlich kommt das fehlende Verständnis für eine andere Kultur von einem Mangel an Wissen, doch der Grund für dieses beschränkte Wissen ist möglicherweise, dass man sein Denken einfach zu sehr abschottet. Man verspürt gar nicht den Drang, sich zu öffnen und „das Andere“ verstehen zu müssen. Letztendlich kommt ja der ganze Ärger von außen, ob nun von China, dem Iran, aus Afghanistan oder dem Irak. Im Vergleich zu diesen Krisenherden erscheint die europäische Welt so wohlhabend wie zuvor, zumindest erscheint sie friedlich und intakt und genügt dem vorherrschenden kulturellen Überlegenheitsgefühl. Und die Geschichte scheint diesem Gefühl Recht zu geben, es beherrscht Europa seit der Renaissance.

Die Vorstellung von der Allgemeingültigkeit europäischen Denkens nahm seinen Anfang mit der Aufklärung, und sie gilt auch für das politische System der Demokratie und seine Auswirkung auf die Gesetzgebung oder für die Freiheit der Rede. Die Armut der sozialistischen Staaten während des Ost-West-Konflikts stützte das westliche Überlegenheitsgefühl genauso selbstverständlich wie das Ende des Kalten Kriegs als Sieg der westlichen Zivilisation gefeiert wurde. Die Tragik des Anschlags vom 11. September bleibt auch nach der Auslöschung von Saddam Hussein und Osama Bin Laden vollends bestehen.

Und auch die neuesten Veränderungen im Mittleren Osten scheinen nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Welt sich nach dem Vorbild Europa richtet. Europa bleibt das Zentrum des Universums, sein Wertesystem ist die Achse, an der sich der Fortgang der Geschichte orientiert, und demnach wird die Zukunft immer in den Händen des alten Kontinents liegen. Dieses Bild ist tröstlich, doch ich möchte daran erinnern, dass die Chinesen seit zweitausend Jahren genau dasselbe Geschichtsbild haben.

Sie ließen sich von ihren Emotionen leiten, riefen nihilistische Parolen mit der Forderung nach vollkommener Verwestlichung aus.

Der größte Unterschied im Vergleich der chinesischen Geschichte mit der des Mittelmeerraumes ist der, dass die chinesische Kultur im Lauf ihrer Historie weit weniger herausgefordert wurde. Im Verhältnis zur so genannten Ersten Welt entwickelte sich die chinesische Kultur vor den Opiumkriegen praktisch ungestört und unbeeinflusst (abgesehen von den Eroberungsfeldzügen einiger Nomadenvölker, die aber letztendlich immer von der chinesischen Kultur assimiliert wurden). Daraus resultierte ein „Reich der Mitte“, das immer selbstgefälliger und konservativer wurde.

Das chinesische Kultursystem war wie eine rostige Feder, die jede Elastizität verloren hat, um auf Herausforderungen von außen zu reagieren. Bis dann die Europäer mit ihrer eigenen Kultur (und militärischen Stärke) kamen und solange auf die Feder Druck ausübten, bis die Chinesen sich mit einem Mal aus ihrem Selbstbewusstsein heraus in einen Zustand extremer Selbstzweifel katapultiert sahen. Sie ließen sich von ihren Emotionen leiten, riefen nihilistische Parolen mit der Forderung nach vollkommener Verwestlichung aus, schufen ihr eigenes Modell von Revolution und stürzten sich kopfüber in die dunkelste Diktatur ihrer Geschichte.

In der Geschichte Europas, oder besser des Mittelmeerraums, trafen unterdessen permanent Kulturen aufeinander und lösten einander ab, vom alten Ägypten über das griechische, römische, byzantinische oder osmanische Reich bis zu Napoleon, den russischen Zaren und den fremden Eroberern Attila oder Dschinghis Khan. Jedes Aufeinanderprallen zwang Europa, seinen eigenen Standpunkt neu zu bestimmen und zu festigen. Das Beständige an europäischer „Tradition“ waren die ständigen Impulse von außen und immer neue Herausforderungen. Doch dann kam die Renaissance und mit ihr das denkende Individuum und fragte: „Was ist Europa?“ Die divergierenden Kulturen Europas suchten und fanden mit der EU einen gemeinsamen Nenner. Europa war ein Erfolg. Aber ich frage mich: Setzt sich diese Erfolgsgeschichte fort?

Über den Autor
Yang Lian
Dichter

Yang Lian ist chinesischer Dichter, lebt zurzeit in Berlin und gewann 2012 den renommierten internationalen Nonino-Literaturpreis. Er wurde 1955 als Sohn von Diplomaten in der Schweiz geboren und wuchs in Peking auf. 1979 schloss er sich einer Gruppe von Dichtern an, die die Zeitschrift „Jintian“ veröffentlichten. Zurzeit des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens befand er sich in Neuseeland und beteiligte sich von dort aus an den Protesten gegen das Vorgehen der chinesischen Regierung. Kurz darauf wurden seine Werke in China auf die Zensurliste gesetzt und Yang Lian wurde die chinesische Staatsbürgerschaft entzogen. Auf Deutsch erschienen: „Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons – Gedichte und Reflexionen“ (Suhrkamp Verlag 2009); „Konzentrische Kreise“ (Hanser Verlag 2013). Und soeben „Die Erkundung des Bösen“ (PalmArtPress 2023).

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